Indem eine Person einer anderen Unrecht antut, entsteht ein Ungleichgewicht, welches wieder ausgeglichen werden muss. Dabei muss gegenüber dem vorher gültigen Grundsatz unterschieden werden, der besagte, dass ein Ausgleich nur durch Zufügen eines weiteren Schadens geschehen könne. Auf einen Regelbruch oder eine kriminelle Tat folgt eine Reaktion, die erneut eine Balance der Gerechtigkeit herstellt. Dabei werden die Bedürfnisse des Opfers in den Vordergrund gestellt. Der Rache- oder Vergeltungsgedanke allerdings verschwindet aus der Debatte: Die Folge auf Delinquenz ist die Auseinandersetzung mit den Fragen, warum ist es passiert und wie ist der Zustand zuvor wiederherzustellen. Die Reaktion auf Verbrechen darf in der modernen, humanen Gesellschaft, nach der wir streben, keinen weiteren Schaden hervorrufen, auch nicht für die Seite, die den Schaden verursachte.
Dem sich seit den 2020er Jahren entwickelten Paradigmenwechsel bezüglich der Reaktion auf Delinquenz ging die Dementierung alter und die Festsetzung neuer Werte voraus. Das vorangegangene Konzept war von der Gesellschaft aus dem Grund akzeptiert, da sich der Großteil davon abwenden konnte. Erst durch die Aufmerksamkeit gegenüber der bestehenden Diskriminierung von Teilen der Gesellschaft entstand eine breite Zustimmung für die Dekonstruktion des Gefängnisses.
Der Entschluss, sich von Strafe zu lösen und sich zur Resozialisierung zu entwickeln, war aber dennoch in einer solch kurzen Zeit überraschend. Um zu einer humanen und nachhaltigen Reaktion auf Kriminalität zu kommen, musste ein Umdenken der Gesellschaft stattfinden. Anstatt Vergeltung als eigennütziges, altmodisches Ventil hieß es, einen Weg zu finden, der sich positiv auf die Lebensqualität aller auswirkt und dennoch Konsequenzen gegenüber Delinquenten für Fehltritte fordert.
Es musste sichergestellt werden, dass mit der Umsetzung der Freiheitsstrafe kein zusätzliches, vergebliches Leid verursacht wird. Die neue Antwort auf kriminelles Handeln muss zum Ziel haben, das Leid der Regelbrechenden auf ein Minimum zu reduzieren, sodass die einzige Strafe die des Entzugs der körperlichen Freiheit zum Schutz der Allgemeinheit ist. Unabhängig von der Straftat muss die Würde des Menschen respektiert und auf soziale Reintegration abgezielt werden. Das Ziel einer humanen Reaktion auf Kriminalität ist also nur erreichbar, wenn der Blick von Strafe hin zu einer rationalen, weitsichtigen und kompensierenden Art des Umgangs mit Delinquenz verlagert wird.
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Allem voran ging die Festlegung moralisch-ethischer Werte und die Definition der Methoden zu deren Umsetzung. Es entwickelte sich die Einsicht, dass nur durch das Absehen von Strafe langfristig ein menschenwürdiger und auf lange Sicht effektiver Umgang mit Kriminalität möglich sein wird.
Die Bestrafung als Reaktion auf Delinquenz ging auf das blutrünstige Grundverständnis der letzten Jahrtausende zurück. Das menschengemachte Bedürfnis nach Vergeltung führte zu der Annahme, dass es keine Alternativen im Umgang mit Regelbruch geben könne. Das Konstrukt setzte sich aus der Vergeltung, der Abschreckung und den frühen Zügen der Resozialisierung zusammen. Die Resozialisierung diente als Legitimierung, dass das Gefängnis doch so lange Bestand hatte und von der Gesellschaft akzeptiert wurde.
Obwohl Vergeltung und Rache bereits weit vorher als primitiv und nicht zielführend galten, so fanden sie in der zivilisierten Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts im Strafvollzug noch immer unter der Rechtfertigung statt, dass sie notwendig war, um den/ die Täter:in zu resozialisieren und von zukünftigen Taten abzuschrecken. Mittlerweile wird vom Zufügen weiteren Leids auf ein ohnehin negatives Ereignis abgesehen. Strafe dient nicht mehr als Reaktion auf Fehler, sie kann auch das Zerstörte nicht wieder zurück bringen. Dabei ist nicht gemeint, dass jemanden, der gegen die Regeln unserer Gesellschaft verstößt, keine Konsequenzen zu erwarten hat. Weg von der Strafe, hin zur Prävention. Weg vom Strafsystem, hin zum Reaktionssystem.
Es ist also von ganz entscheidender Bedeutung, zu erkennen, wie Vergeltung, Schuld, Reue, Wiedergutmachung und Vergebung zusammenhängen und wie diese Elemente dazu dienen, einerseits und gegenseitige Verletzungen zu reduzieren und andererseits die Bindung der Menschen zueinander zu stärken. Rache fördert jedoch in aller Regel nur weitere Angst und Gewalt.
Thomas Galli
Das übergeordnete Ziel ist es, entweder bereits vor einer eventuellen Tat die Beweggründe aus dem Weg zu schaffen, oder, sollte es doch zu einem Regelbruch gekommen sein, mit der Reaktion den vorherigen oder gar einen besseren Zustand herzustellen. Es geht um die Suche nach einer Lösung für alle drei Parteien, den Staat, den/ die Täter:in und das Opfer. Die Frage, warum die Tat begangen wurde und wie sie zukünftig vermieden werden könnte, rückt so ins Zentrum.
Trotz der Unterteilung der Punkte in Grundwerte und Methoden ist anzumerken, dass keiner der Ansätze alleine hätte funktionieren können. Jede Situation ist individuell zu werten und einzuschätzen und erfordert unterschiedliche Herangehensweisen. Die folgenden Punkte stellen also eine Verbindung von Instrumenten und den dazu gehörenden moralischen Grundwerten dar und zeigen die neue Zielsetzung des Umgangs mit Kriminalität.
Unter dem Begriff „Kriminalität“ fassen wir die unterschiedlichsten Formen von gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten zusammen. Die Reaktion darauf muss diesen Unterschieden Rechnung tragen. Eine Möglichkeit bei uns wäre, Straftätern, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, etwas für sie Sinnvolles anzubieten, was sie mit dieser Zeit anfangen können: eine Ausbildung, eine Therapie oder auch direkt einen Arbeitsplatz, damit sie Geld verdienen, mit dem sie das Opfer entschädigen können.
Johannes Feest
Die fundamentals beschreiben die Grundsätze des neuen Reaktionssystems, mit dem heute Fehltritte bewältigt werden.