abolitionism

I feel the prison system is not separate from these bigger issues already creating power relations on the ground that further cause violence to communities of colour.
Nasrim Himada

Der Begriff Abolitionismus stammt aus dem lateinischen und bedeutet „Abschaffung“ oder „Aufhebung“. Er beschreibt ursprünglich die weltweite Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Vor allem seit den 1970er Jahren wurde der Begriff auch im kriminalsoziologischen Sinne verwendet. In diesem Falle wurde er von Gegnern der Anwendung von Folter, des Vollzugs der Todesstrafe und der Verhängung von Gefängnisstrafen verwendet.
Die Abolitionist:innen forderten den vollständigen Verzicht auf die Institution Gefängnis, da sie der Meinung waren, dass nicht der Staat sondern das Opfer die einzige Institution sein könnte, eine geeignete Strafe bzw. einen angemesseneren Täter-Opfer-Ausgleich festzusetzen.
Durch seinen Ursprung im Kolonialismus beschreibt der Begriff Abolitionismus auch die Logik repressiver Systeme im Umfeld von Rassismus und Sexismus.

Prison, we have been taught, is a necessary evil. This is wrong. Prison is an artificial, human invention, not a fact of life; a throwback to primitive times, and a blot upon the species. As such, it must be destroyed.
Prison Research Education Action Project

Vor allem seit den späten 1960er Jahren trat die Resozialisierung als herausragendes Vollzugsziel in den Vordergrund. Durch die Definition des damaligen Bundesverfassungsgerichts 1973 wurde die Resozialisierung als „die Wiedereingliederung des/der Straftäters/Straftäterin in die Gesellschaft“ (BVerfGE 35, 202, 235) definiert und als das „herausragende Ziel“ des Vollzuges von Freiheitsstrafen festgeschrieben. „Die Verfassung gebietet es, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung auszurichten. Der einzelne Gefangene hat einen grundrechtlichen Anspruch darauf. Dieses Gebot folgt aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft, die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist“ (BVerfGE 98, 169, 200 ff.).

Faktisch hat sich zwar die Humanisierung im Strafvollzug durch den Resozialisierungsgedanken verbessert, jedoch stand der „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ meist im Vordergrund.

Abolitionismus ist die radikale Ablehnung als menschenunwürdig erkannter Institutionen. Historisch betrachtet hat eine abolitionistische Haltung ihren Ausdruck in der Forderung nach Abschaffung von Praktiken und Institutionen gefunden, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verächtliches, ein wertloses Wesen ist. Exemplarisch hierfür standen und stehen z.B. Forderungen nach Abschaffung der Sklaverei, der Folter oder der Todesstrafe, deren vollständige oder teilweise Beseitigung uns ermutigt, eine weitere Institution in dieses abolitionistische Bestreben einzubeziehen. Das vorliegende Manifest konzentriert sich auf den Strafvollzug in Gefängnissen, stellt aber auch die Strafe als solche in Frage.
Gefängnisseelsorge

In den 2010er und 20er Jahren wurden Stimmen laut, die die Institution Gefängnis als nicht zielführend bezeichneten. Trotz enormer Kosten in Höhe von vier Milliarden Euro jährlich in Deutschland würden 50% der entlassenen Strafgefangenen wieder rückfällig.

Der Verlust von Arbeitsplatz und Familie, der eigenen Selbstständigkeit und die Entwicklung von Minderwertigkeitsgefühlen begründen diese Kritik. Die hohen Rückfallquoten bestätigten diese Annahmen. Im Gefängnis gäbe es Drogen und eine gewalttätige Subkultur, der sich keiner entziehen könne und die Häftlinge noch mehr kriminalisiert, so damals der Resozialisierungsexperte Bernd Maelicke in seinem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli schlug vor, die existierenden Gefängnismaschinen eher zu kleineren Unterbringungsmöglichkeiten mit der Möglichkeit einer psychologischen Betreuung umzuwandeln. Sowohl Maelicke als auch Galli räumen jedoch ein, dass es dennoch kriminelle Personen gibt, vor denen die Gesellschaft durch eine sichere Verwahrung geschützt werden muss.

A prison sentence means intentionally inflicted suffering.
Livio Ferrari, Massimo Pavarini - No Prison

Das No prison Manifesto basiert auf einem Projekt, initiiert von Massimo Pavarini, Professor für Strafrecht Universität Bologna, und Livio Ferrari, Journalist und Schriftsteller, und wurde in dem Buch No Prison niedergelegt. In diesem Buch nahmen 13 internationale Autoren Stellung zur Notwendigkeit der Abschaffung von Gefängnissen. Dabei wurde zwar anerkannt, dass es in einigen Fällen notwendig sein kann, Menschen zum Schutz Anderer oder zur Sicherung eines rechtstaatlichen Verfahrens die Freiheit zu entziehen. Jedoch wurde dem Entzug der Freiheit zur Bestrafung und der Notwendigkeit der Freiheitsstrafe im Allgemeinen widersprochen.
Als Argumentation wurde aufgeführt, dass die resozialisierende Wirkung nicht nachweisbar sei, dass unbeteiligte Dritte, also Kinder und Partner, negativ betroffen seien und dass eine Abschreckungswirkung nur in geringem Maße nachweisbar ist.

Die Freiheitsstrafe der 2020er Jahre ist zwar eine Verbesserung gegenüber der körperlichen Strafpraxis des 17. Jahrhunderts, da die Begrenzung der Freiheit humaner erschien als die zuvor üblichen körperlichen Strafen, dennoch hatte sich die Gesellschaft im Hinblick auf ihren demokratischen Grundcharakter zu dieser Zeit bereits erheblich weiterentwickelt, sodass es geboten erschien, die soziale Struktur innerhalb der Gefängnismauern weiter zu entwickeln.
Die Gesellschaft der 2020er Jahre hat erkannt, dass die Herangehensweise des Gefängnisses, nämlich Herausziehen des Gefangenen aus der Gesellschaft, in die er durch Rehabilitationsmaßnahmen später wieder integriert werden soll, unlogisch ist und daher nicht funktionieren kann.
Die negativen Folgen der Inhaftierung für unbeteiligte Dritte, wie Partner und Kinder, das Verpuffen der Abschreckungswirkung sowie der unzureichende Täter-Opfer-Ausgleich führten zu einem sozialen Ungleichgewicht, erzeugt und verschärft durch die Praxis des Bestrafens mittels Freiheitsentzug, so dass der Prozess zur Abschaffung des Gefängnisses begann.

Everyone knows that the absence of education, dislike of regular work, physical inability of sustained effort, misdirected love of adventure, gambling propensities, absence of energy, an untrained will and carelessness about the happiness of others are the causes which bring this class of people before the courts. Now I was deeply impressed during my imprisonment by the fact, that it is exactly these defects of human nature – each one of them – which the prison breeds in its inmates; and it is bound to breed them because it is a prison and will breed them so long as it exists.
Johannes Feest, Sebastian Scheerer - No Prison

Die 1981 in den USA gegründete non-profit Organisation ADPSR initiierte Projekte und andere Aktivitäten, um kritische soziale und umwelttechnische Belange sichtbar zu machen. Sie engagierten sich für nachhaltige Planung und Design für ökologische Gebäude und Stadtlandschaften. Bekannt wurden sie 2012 für eine Initiative, die die Ausübung oder das Entwerfen von Räumen oder Gebäuden, die als Gefängnis genutzt werden sollen, die Menschenwürde verletzen oder als Räume für Folter und Todesstrafe dienten, verbietet.

As people of conscience and as a profession dedicated to improving the built environment for all people, we cannot participate in the design of spaces that violate human life and dignity. Participating in the development of buildings designed for killing, torture, or cruel, inhuman or degrading is fundamentally incompatible with professional practice that respects standards of decency and human rights.
ADPSR

Demnach sollten Mitglieder dieser Organisation nicht an der Gestaltung von Räumen und/oder Gebäuden, die zur Hinrichtung, Folter oder Bestrafung, zur herabsetzenden Behandlung von Menschen gedacht sind, inklusive dem Freiheitsentzug mitwirken. Dies richtet sich auch und besonders an die rassistische Ausprägung des Gefängnissystems. Die ADPSR initiierte und unterstützte Aktivitäten, um sozialen Fortschritt in Bezug auf die gebaute Umgebung zu fördern und voranzutreiben. So wurde beispielsweise 2017 der Aufruf We won’t build your Wall gestartet, der die Mitwirkung von Architekten, Designern und Planern beim Bau einer Mauer zwischen den USA und Mexico verhindern sollte.
Ebenso wurde die US-amerikanische Architektenkammer (AIA, American Institute of Architects) von der ADPSR aufgefordert, durch einen Zusatz (Amendment to the codes of ethics of AIA), in eindeutiger Sprache die Beteiligung an der Gestaltung und am Bau menschenverachtender Architektur zu verbieten.

Das im erstmals Jahr 2010 herausgegebenes Magazin zu Architektur, Landschaftsplanung und Politik befasste sich mit der Verbindung zwischen Marktkapitalismus und gebauter Umgebung.
Schwerpunkte bildeten dabei die Untersuchung von ausbeuterischer Verwertung von Raum und Fläche, die Verschwendung von Arbeitskraft und Ressourcen, die ungleiche Verteilung von Umweltrisiken einerseits und dem Nutzen aus der Ausbeutung der Umwelt andererseits.

Today, architects do not see themselves as metaphysicians, and yet there is unfinished metaphysical business at the core of the modern project that continually undermines this narrative of liberation.
Seth Denizen, Marzin Kedzior - Scapegoat: Other Forms

In der siebten Ausgabe Incarceration trugen Nasrin Himada und Chris Lee diverse Texte zusammen, die den Einfluss und die Wirkung von Architektur auf Gefängisbauten aus der Perspektive der Abolitionist:innen untersuchen.
Neben vielen anderen Autoren schrieb Margarita Osipian in ihrem Text Illuminating the Margins über 2 visuelle Projekte, die die Unsichtbarkeit des Gefangenen durch das Wegsperren von der Gesellschaft außerhalb des Gefängnisses einerseits und die Sichtbarmachung des Gefangenen durch allgegenwärtige panoptische Beobachtung andererseits darstellen. Das tatsächlich gebaute Gefängnis befindet sich nach Osipian unmittelbar auf der Verbindungsstelle zwischen der zentralistischen hierarchischen Welt der foucaultschen Disziplinargesellschaft und der vernetzten Struktur der deleuzschen Kontrollgesellschaft.
In seinem Projekt Of Lenght and Measures fotografiert Stephen Tourlentes Gefängnisbauten bei Nacht. Paradoxerweise, reflektieren dann diese Bauten, die die Gesellschaft absichtlich weit außerhalb ihrer Stadtgrenzen gebaut hat durch ihre intensive nächtliche Illumination auf eben diese Gesellschaft in ihren Städten zurück. Die zentralistische und abgeschlossene Struktur des Gefängnisses wird so – wenn auch nur in der Nacht – sichtbar und erlebbar.
Das 2004 gegründete Spatial Information Design Lab präsentiert 2006 im Museum of Modern Art New York ihr Projekt Million Dollar Blocks. Anhand von Datenauswertungen wurde festgestellt, dass viele der damals ca. 2 Millionen Strafgefangenen in den USA aus nur wenigen Vororten großer Städte kommen. Diese Daten wurden anhand von Stadtplänen (in diesem Fall Brooklyn, New York) visualisiert. Dabei wurde eine Linie zwischen der Wohnung des Häftlings und dem Ort des Gefängnisses gezogen. Das daraus entstehende visuelle Netzwerk zeigt, dass bestimmte Stadtteile überproportional viele Einwohner in entfernten Gefängnissen unterbringen. Diese Information ist für Bürger nicht sichtbar, beeinflusst jedoch in hohem Maße die Stabilität der Gesellschaft/die Population des jeweiligen Stadtteils. Die geographische Vernetzung des Gefängnisses mit der Gesellschaft und seine Wirkung auf sie wird so sichtbar gemacht.

Moreover, revealing these networks works to unhinge the prison from its solitary space at the edges of society and shows how it is woven into the urban fabric.
Margarita Osipian - Scapegoat: Incarceration

ADPSR: AIA Ethics. Abgerufen von www.adpsr.org/aiaethics (03.10.2020).

ADPSR: Prison Architecture. abgerufen von www.adpsr.org/prisonarchitecture (03.10.2020).

ADPSR: We Won‘t Build Your Wall. Abgerufen von www.adpsr.org/wewontbuildyourwall (03.10.2020).

Denizen , Seth; Kedzior, Marzin: Life. Scapegoat 11, Other Forms, Winter 2017-Spring 2018.

Diskuthek: Leben im Gefängnis: Macht Knast kriminell? Der Stern, 26.09.2019, [YouTube] www.youtube.com/watch?v=G2-WYJJhb6Y, (20.09.2020).

Ferrari, Livio; Pavarini, Massimo: No Prison. EG Press Limited, Wales 2018.

Fischhaber, Anna: „Gefängnis ist keine Lösung“ Resozialisierung. In: Süddeutsche Zeitung, 5. Juni 2015, www.sueddeutsche.de/leben/resozialisierung-gefaengnis-ist-keine-loesung-1.2505479, abgerufen am 04.03.2020

Galli, Thomas: Weggesperrt: Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020
Gefängnisseelsorge, abgerufen von https://gefaengnisseelsorge.net/manifest (03.10.2020).

Himada, Nasrin: On Prison Abolitionism. In: The Funambulist: Carceral Environments, CCA, Montreal 2016.

Himada, Nasrin; Chris Lee: Scapegoat 7 - Incarceration. SCAPEGOAT Publications, Toronto 2014.

MoMA: Architecture and Justice from the Million Dollar Blocks project. 2006, abgerufen von www.moma.org/collection/works/110423 (0310.2020).

Prison Research Education Action Project: Instead Of Prisons: A Handbook For Abolitionists. Prison Research Education Action Project, 1976, abgerufen von www.prisonpolicy.org/scans/instead_of_prisons/index.shtml (10.09.2020).

Puschke, Jens (Hrsg.) : Humanismus und Strafvollzug - Drei Thesen und ein Resümee, Strafvollzug in Deutschland. Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen, abgerufen von www.humanistische-union.de/themen/rechtspolitik/strafvollzug2010/detail/ back/strafvollzug-2010/article/humanismus-und-strafvollzug-drei-thesen-und-ein-resuemee-1/ (03.10.2020).

Seelich, Andrea: So hart können Besuche im Knast sein. Ze.tt, 08.062020, https:// ze.tt/gefaengnisarchitektin-andrea-seelich-so-hart-koennen-besuche-im-knast-sein/ (03.10.2020).