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Michel Foucault (1926-1984), der französische Philosoph, Historiker, Soziologe und Psychologe, beschreibt in seinem Werk Überwachen und Strafen die „Geburt des modernen Gefängnisses als Institution“. Er führt die uniforme Gestalt, die der Strafvollzug in der ganzen Welt angenommen hat, auf die Verbreitung einer Disziplinartechnik zurück, die in vielen Institutionen gegenüber dem Individuum (Subjekt) angewendet wird, darunter beispielsweise in Schulen, Krankenhäusern, Kasernen und – in diesem Fall exemplarisch - in Gefängnissen.
Er prägt daraus den Begriff der Disziplinargesellschaft. Nach Foucault wird durch die disziplinarische Ausübung der Macht in allen gesellschaftlichen Institutionen die Gesellschaft selbst zum Gefängnis. Der so entstandene Disziplinarapparat schafft so durch die Disziplinierung des Individuums einen Nutzen aus dem ökonomischen Wert des Individuums.

Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewusst werden muss: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären.
Michel Foucault

Das Gefängnis wird in diesem Zusammenhang als Verkörperung der Disziplinargesellschaft nach Foucault verstanden. Dabei werden die Insassen als Individuen stets sozial und physisch überwacht, also sichtbar gehalten, während die Insassen als disziplinarische Institution von außen gegenüber dem Rest der Gesellschaft im Verborgenen existieren, also unsichtbar gehalten werden.

Die architektonische Idealverkörperung dieses gesellschaftlichen Zustands stellt das Panopticon des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) dar. Es beschreibt laut Foucault den Höhepunkt der Kontrolle. Dieses Modell eines Gefängnisses besteht aus einem zentralen Wachturm mit rundherum angeordneten Zellenringen, so dass die Insassen jederzeit beobachtet und als non-konform bezeichnete Handlungen unmittelbar geahndet werden können. Das Wissen um die potenzielle Disziplinierung führt in den meisten Fällen zu einem regelkonformen Verhalten der Insassen, so dass von einem aus der Disziplinierung entstehenden (ökonomischen) Nutzen gesprochen werden kann. Bentham schlägt diese hierarchische und zentralistische architektonische Konzeption auch für weitere disziplinarische Institutionen wie Fabriken, Schulen und Kasernen vor.
Aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse resultieren vor allem aus der Etablierung von Internet-basierten Verfahrens- und Kommunikationstechniken. Bereits 1990 schreibt Gilles Deleuze (1925-1995) über die Entwicklung von der Disziplinargesellschaft nach Foucault zu einer sogenannten „Kontrollgesellschaft“. Darin erfolgt die Machtausübung über die Kontrollergreifung und nicht mehr über Disziplinierungsmaßnahmen. Ebenso entwickelte Zygmunt Bauman den Begriff des „Postpantoptismus“. Die postpanoptische Gesellschaft ist zur Ausübung von Macht nicht mehr an feste Territorien gebunden, sondern nutzt elektronische Überwachungsmethoden um Macht auszuüben und zu sichern.

Der Staat löst in uns Minderwertigkeitskomplexe aus und lässt uns an allem zweifeln. Entlassen werden wir als menschliche Häufchen Elend und sind zu nix mehr zu gebrauchen. Justizzombies halt. Werden wir nach der Entlassung die Fußabtreter der Gesellschaft sein?
Gefangener, GG/BO (Gefangenengewerkschaft)

Anfang der 2020er Jahre breitete sich ein neuartiger Grippevirus von China über die ganze Welt aus. Innerhalb von 2 Monaten wuchs sich das Infektionsgeschehen zur weltweiten Pandemie aus. Durch die hohe Infektiösität erkrankten bis zum Oktober 2020 35 Millionen Menschen an der Virusinfektion. Circa 1 Million Menschen starben in diesem Zeitraum.
Um die Ansteckungszahlen zu reduzieren und die exponentiell steigende Infektionskurve abzuflachen, wurden Maßnahmen getroffen, die – zumindest in der damals „westlichen“ Welt - viele Menschen zuvor nicht kannten. Die persönlichen Freiheitsrechte wurden stark eingeschränkt, es herrschten Ausgangsbeschränkungen bis hin zum lock-down. In einigen Ländern durften von einem Tag auf den anderen Familien nicht mehr ihre Wohnungen verlassen, Kinder nicht mehr in Schulen, Restaurants und Läden wurde geschlossen, Büros verwaisten und wer in der Lage dazu war, zog ins Home-Office.

Das geht für eine Zeit. Auch im demokratischen Staat kann man diese Rechtsbeschränkung eine Zeitlang durchhalten, es ist auch legitim, das zu machen. Aber man muss erstens immer die mildesten verfassungsrechtlichen Mittel wählen. Und zweitens sollte es nicht, wie jetzt vielerorts geschehen, so völlig an der parlamentarischen Kontrolle vorbeigehen. Das wird einfach entschieden. Und drittens ist es entscheidend, dass es nur temporär ist.
Isabel Fannrich-Lautenschläger

Selbstbestimmung - Fremdbestimmung
In diesen Zeiten fiel den Menschen auf, welche Freiheiten wirklich Relevanz besitzen und worauf man eventuell doch verzichten könnte. Insbesondere die Fremdbestimmung durch den Staat und die Politik wurde von vielen Bürgern kritisch gesehen. Sie reagierten teilweise mit heftigen und gewalttätigen Demonstrationen. Auch die mögliche Überwachung durch App, um Infektionen digital nachvollziehen zu können, wurde kritisch aufgenommen und von vielen Bürgern abgelehnt.

Existentielle Unsicherheiten

Durch den sofortigen lock-down im Frühjahr 2020 standen viele Kleinunternehmer insbesondere aus der Reisebranche, aber auch Künstler, Schauspieler, Friseure, Restaurantbesitzer und viele mehr wirtschaftlich vor dem Nichts. Obwohl in vielen Ländern Unterstützungsleistungen unbürokratisch ausgezahlt wurden, war die Dauer und der Umfang der durch die Pandemie verursachten Maßnahmen nicht abzusehen. Immer wieder rund um den Globus wiederkehrende Infektionswellen und Ausbruchsherde verhinderten eine Planung und Vorausschau der näheren Zukunft.

Aufwiegen von Grundrechten

Zum Schutz von Risikogruppen, wie Älteren und Vorerkrankten, wurden Altenheime mit einem Besuchsverbot belegt, es herrschte Maskenpflicht und ein Abstandsgebot. In vielen Ländern wurde die Einhaltung der Regel strengstens durch die Polizei, teilweise sogar durch das Militär kontrolliert. Viele junge, gesunde Menschen lehnten sich gegen diese Bevormundung auf und wurde zu Regelbrechern, indem sie beispielsweise Abstandsgebote und Ausgangsbeschränkungen ignorierten.

Quarantining und Gefängnis

Durch den plötzlich eintretenden Lockdown wurden innerhalb von wenigen Tagen Millionen von Menschen aus ihrer Alltagsroutine, aus ihrer Arbeit, aus ihren Familien herausgezogen. Finanzielle Unsicherheit, Angst vor der unbekannten Zukunft, Aberkennung von vielen Grundrechten war plötzlich Realität. Obwohl weitere Merkmale wie starke Hierarchisierung, Schaffung von Subkulturen, Anwendung von Gewalt nicht für die Massen spürbar wurden, war für viele auf einmal erkennbar, wie sich das anfühlen könnte als Strafgefangener.

Baumann, Zygmunt: Liquid Modernity. Polity Press, Cambridge 2000.

Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990 - Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Edition Suhrkamp, 1993.

Fannrich-Lautenschläger, Isabel: Über die Auswirkungen von Verzicht auf die Gesellschaft. 06.05.2020, abgerufen von www.deutschlandfunk.de/corona-kontaktbeschraenkungen-ueber-die-auswirkungen-von.1148.de.html?dram:article_id=476107 (05.10.2020).

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen - Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1976.

GG/BO: Gefangenengewerkschaft, o.J., abgerufen von https://ggbo.de/, (20.09.2020).

Himada, Nasrin; Chris Lee: Scapegoat 7 - Incarceration. SCAPEGOAT Publications, Toronto 2014.

Young, Liam: Wohin die Stadt nicht sehen kann. In: Arch+ 236. Arch+ Verlag GmbH, Berlin 2020.

Abbildungen:

001 Pläne: Jeremy Bentham, 1790, nach RDK Labor [www.rdklabor.de/wiki/Gef%C3%A4ngnis]

002 Bild: N. Harou Romain, 1840, nach Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 208